Auf die Corona-Krise folgt die Wirtschaftskrise. Europa schlittert in die größte wirtschaftliche Rezession seit der Großen Depression der 1930er Jahre. Die EU-Kommission rechnet in diesem Jahr mit einem Einbruch der europäischen Wirtschaftsleistung von 7,4 Prozent. Die Krise trifft besonders die deutschen Kernbranchen – Automobilbau, Elektroindustrie, Chemie und Maschinenbau. Die weltweite Pandemie verändert langjährige Strategiepläne, Ziele und konkrete Investitionsvorhaben. Jetzt schlägt die Stunde des Staates und der Industriepolitik.
Noch vor wenigen Wochen dominierte der Klimaschutz die Schlagzeilen. Die öffentliche Debatte verschärfte die Gräben zwischen der vermeintlich „alten Industrie“ auf der einen und den Befürwortern eines möglichst radikalen klimaneutralen Umbaus des Wirtschaftssystems auf der anderen Seite. Befeuert durch die „Fridays for Future“-Proteste beschloss die Bundesregierung das Ziel der Treibhausgasneutralität bis 2050. Die EU zog mit dem Green Deal nach. Durch Arbeitslosenzahlen auf Rekordtief und sprudelnde Steuereinnahmen traten „klassische“ industriepolitische Positionen wie Arbeitsplatzsicherung, Bürokratieabbau, internationale Wettbewerbsfähigkeit durch Steuern und Abgaben etc. hinter dem Klimaschutz zurück. In der Krise ist die Industriepolitik jetzt zurück auf der politischen Bühne.
Mit massiven Finanzhilfen gegen die Krise
Die Bundesregierung versucht, den wirtschaftlichen Kollaps mit massiven Finanzhilfen zu verhindern, und steigert die Staatsverschuldung auf 72 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben bislang die astronomische Summe von 3,4 Billionen Euro für die Abmilderung der Folgen der Corona-Krise verplant. Mindestens eine Billion Euro soll zusätzlich für ein europäisches Wiederaufbauprogramm fließen. Auch die Bundesregierung diskutiert über die Ausgestaltung eines Konjunkturprogramms für die Zeit nach der Krise. Bereits jetzt ist ein Streit darüber entbrannt, wie die Hilfen und Förderungen verteilt und welches strategische Ziel mit ihnen verbunden werden soll. Von einer Neuauflage der „Abwrackprämie“, einzelnen Konjunkturfonds für die Tourismus- und Gastronomiebranche, Förderhilfen für selbstständige Künstler bis hin zu einer Entschärfung der Düngemittelverordnung – die Liste der Forderungen und Betroffenen ist lang und vielfältig.
Welche Erwartungen haben die Menschen heute an Industriepolitik? Welche Rolle spielt für sie das Thema Klimaschutz, gerade vor dem Hintergrund der Corona-Krise? Deekeling Arndt/AMO ist diesen Fragen in einer repräsentativen Befragung mit dem Meinungsforschungsunternehmen Civey nachgegangen. Das Ergebnis: Klimaschutz hat auch in der Krise weiter Konjunktur! Rund 66 Prozent der Deutschen befürworten ein Festhalten der Bundesregierung an den Klimazielen. Diese klare Haltung zieht sich durch alle Altersgruppen. Rund 68 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass ein staatliches Konjunkturprogramm nach der Pandemie gezielt umweltfreundliche Technologien fördern sollte.
Klimaschutz hat nach wie vor Konjunktur
Wirtschaftliche oder politische Akteure, die gehofft hatten, der Primat des Klimaschutzes stelle sich als kurzfristiger gesellschaftlicher Trend heraus, dürften ihre Erwartungen enttäuscht sehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel bekräftigte gerade erst das ambitionierte Ziel der EU, bis 2030 55 Prozent (anstatt 40 Prozent) der CO2-Emissionen im Vergleich zu 1990 einzusparen. Doch nicht nur in der Bevölkerung mehren sich die Rufe nach einer nachhaltigen und auf den Klimaschutz fokussierten Ausgestaltung eines Konjunkturpakets – auch in der Wirtschaft werden die Forderungen nach gezielten Investitionen in neue Technologien zur Förderung der Klimaneutralität lauter. Einer europaweiten, überparteilichen Erklärung auf Initiative des Umweltausschussvorsitzenden des Europaparlaments schlossen sich 180 Minister, EU-Abgeordnete, Manager und Vorstände, Gewerkschafter, NGOs und Experten an. Gemeinsam fordern sie den Umbau zu einer klimaneutralen Wirtschaft, mehr Artenschutz und den Umbau der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie. Neben Bundesumweltministerin Svenja Schulze und Ministern anderer EU-Staaten beteiligten sich u. a. Unternehmen wie E.ON, Covestro, IKEA, Renault, Microsoft und Danone an der Initiative. In Deutschland unterstützten mehr als 60 Unternehmen einen gemeinsamen Appell der „Stiftung 2 Grad“ und forderten eine Verzahnung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Bewältigung der Corona- und Klimakrise. Darunter Unternehmen wie Thyssenkrupp, Bayer, Rossmann, Wacker Chemie, Covestro, Otto, E.ON, HeidelbergCement etc.
Durch die Krise zu einem neuen Innovationssprung
Sie alle eint die Überzeugung, dass ein Post-Corona-Konjunkturprogramm durch gezielte und massive Investitionen in nachhaltige Technologien zu einem neuen Innovationssprung des europäischen Wirtschaftsraumes führen und damit neue Chancen eröffnen kann. Die Bundesregierung muss hier schnell Planungssicherheit schaffen. Deutschland ist als eine der weltweit führenden Wirtschaftsnationen auf eine zukunftsfähige Industrie angewiesen. Die Industrie ist das Herz der deutschen Wirtschaft. „Made in Germany“ ist ein globales Siegel für Qualität und Innovation. Die Industrie ist ein Jobmotor und Arbeitgeber für rund 7 Millionen Menschen in Deutschland. Hier wird der Grundstein für Innovationen und Fortschritt gelegt – rund 60 Prozent der Ausgaben für Forschung und Entwicklung entfallen in unserem Land auf die Industrieunternehmen. Gerade die energieintensiven Branchen haben in den vergangenen Monaten den Grundstein für eine grundlegende Transformation ihrer Prozesse gelegt und dabei die Förderung von Nachhaltigkeit und Klimaschutz in den Fokus genommen. Sie brauchen Planungssicherheit und Raum für weitere Investitionen.
Was lässt sich aus diesen Entwicklungen für Unternehmen ableiten?
Wir erleben eine Renaissance der Industriepolitik.
Die Krise lenkt den Fokus schonungslos auf die dringendsten Baustellen: Ausbau der Breitband- und Verkehrsinfrastruktur, Digitalisierung der Verwaltung, Bürokratieabbau, Stärkung der Versorgungsstrukturen, Lieferketten, wettbewerbsfähige Energiepreise und Unternehmenssteuern. 45,9 Prozent der privatwirtschaftlichen Entscheider sahen bei der Civey-Befragung im Auftrag von Deekeling Arndt/AMO die hohe Steuerlast als zentrale Hürde für die Überwindung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie. An zweiter und dritter Stelle folgen die Unternehmensverschuldung (34,2 Prozent) und die übermäßige staatliche Regulierung (29 Prozent). Um den eigenen Positionen in den aktuellen Debatten rund um staatliche Unterstützung, Konjunkturpakete und Entlastungen für Betriebe mehr Durchschlagskraft zu verleihen, sollten Unternehmen gezielt Allianzen bilden – bestenfalls branchenübergreifend. Dabei sollte das Aufwärmen seit Jahren bestehender und altbekannter Forderungen im aktuellen Krisenkontext vermieden werden, um keinen Bumerang-Effekt zu erzielen. Die Versorgungsengpässe bei medizinischer Schutzkleidung haben in Deutschland zudem eine Debatte über die internationalen Lieferketten entfacht. Im Fokus steht die gezielte Überprüfung einzelner Wertschöpfungsketten und die stärkere Definition von Kernbereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge. Dazu gehört auch eine langfristige Stärkung des Forschungsstandortes Deutschland und eine Hinwendung zu mehr Technologieoffenheit. Unternehmen sollten sich darauf vorbereiten, ihre Lieferketten zukünftig stärker erklären und diesbezügliche Entscheidungen rechtfertigen zu müssen.
Die Klimadebatte erlebt ein Comeback.
Die EU hält an ihrem Green Deal fest, wenn auch zunächst Teile des geplanten Pakets verschoben werden. Unternehmen sollten jedoch nicht in die Falle tappen, die aktuelle Krise für einen Ruf nach einem Turnaround beim Thema Nachhaltigkeit und Klimaschutz nutzen zu wollen. – Die Debatte um den langfristigen Beitrag von Unternehmen zum Klimaschutz wird eher noch weiter ansteigen. Das zeigen die Ergebnisse der Civey-Umfrage von Deekeling Arndt/AMO. Die aktuellen politischen Diskussionen auf Bundes- und EU-Ebene weisen darauf hin, dass der Fokus bei den geplanten Konjunkturpaketen zur Überwindung der wirtschaftlichen Corona-Folgen auf der Förderung nachhaltiger und innovativer Technologien liegen wird. Unternehmen müssen daher künftig noch deutlicher machen, welchen Beitrag sie zum langfristigen Ziel einer dekarbonisierten Wirtschaft leisten und welche Anstrengungen sie trotz Krise auf diesem Weg unternehmen.
Die Debatte um den Purpose – den gesellschaftlichen Wert eines Unternehmens – wird differenzierter.
Während viele Menschen ihre persönliche wirtschaftliche Situation noch vor wenigen Wochen als sicher eingeschätzt und somit den Fokus auf andere Themen gelegt haben, zeigt sich in der Krise der Wert der vermeintlich „alten Industrie“ als Garant von Wohlstand und Arbeitsplätzen. Im Fokus steht nicht nur der Beitrag eines Unternehmens zum Klimaschutz, sondern zugleich der Wert nachhaltigen Wirtschaftens, der Schaffung sicherer Arbeitsplätze sowie der Beitrag des Unternehmens zu einem gemeinsamen Weg aus der Krise. Gemeinschaftssinn, Innovationskraft und das Ideal des ehrbaren Kaufmanns sind die prägenden Elemente. Unternehmen sollten den Dialog mit der Gesellschaft aktiv gestalten und ihren Wert als Garant von Arbeitsplatzsicherheit sowie ihren Beitrag zu einer nachhaltigen Erholung des Wirtschaftsstandortes offensiv erklären.
„New normal“ wird zum Alltag.
Die Corona-Krise hat zu einem Quantensprung in der Digitalkompetenz von Unternehmen und Mitarbeitern geführt. Flexible Arbeitszeitmodelle, Homeoffice-Regelungen, Videocalls, Plattformlösungen werden zum Alltag. Die Notwendigkeit von Geschäftsreisen wird stärker hinterfragt – nicht nur im Hinblick auf die Kosten für das Unternehmen, sondern auch auf den Beitrag des Unternehmens zu mehr Nachhaltigkeit. Langfristig profitieren Unternehmen, die sich am schnellsten und flexibelsten an die neue Welt anpassen.
Mehr zur neuen Corona-Realität lesen Sie in unserem Special BACK TO A NEW REALITY. Die Civey-Studie finden Sie hier.
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