Noch im Februar schien die Welt in Ordnung, Wuhan ziemlich weit weg und das Geschäftsjahr bis auf ein paar Lieferengpässe stabil. Inzwischen wissen wir es besser: Die ganze Welt wurde mit voller Wucht vom Coronavirus getroffen und die Wirtschaft liegt seitdem im künstlichen Koma. Die ökonomischen Herausforderungen sind enorm. Hinzu kommt, dass Belegschaften massenhaft in ihre privaten Arbeitszimmer verbannt wurden. Die leergefegten Büros stellen Führungsstile, Unternehmenskulturen und die tägliche Zusammenarbeit auf eine harte Probe.
Willkommen in einer neuen Wirklichkeit
Büroalltag, Meeting-Routinen und klassischer Flurfunk waren gestern. Die meisten Mitarbeiter hatten zwar technisch bereits die Möglichkeit, die Arbeit in die eigenen vier Wänden zu verlegen – kulturell vorbereitet auf 40 Stunden pro Woche zu Hause aber waren die wenigsten. Dauerhaftes Homeoffice gehörte bis vor wenigen Wochen zur Ausnahme. Heute gilt genau das als neuer Standard, der jetzt ohne Vorankündigung und ohne Pilotphase funktionieren muss.
Führungskräften kommt in dieser Situation eine noch stärkere Orientierungsfunktion zu als bisher schon: Sie müssen vorangehen, offen für neue Formen der virtuellen Zusammenarbeit sein und ihren Mitarbeitern beweisen, dass es funktioniert. Täglich Distanzen zu überbrücken und für Motivation zu sorgen, sind Mammutaufgaben, wenn gleichzeitig akute unternehmerische Fragestellungen beantwortet werden müssen. Aber sie sind unerlässlich. Der Kontaktverlust erfordert mehr Abstimmung denn je und neue Wege der Kommunikation.
Die Situation birgt aber auch Möglichkeiten. Offizielle Dienstwege, Abstimmungsroutinen und Unterschriftenregelungen werden ad acta gelegt – jetzt darf neu, quer und groß gedacht werden. Und es darf vor allem eins: ausprobiert werden. Einfach umsetzen statt wochenlang zögern. Schnelle Entscheidungen statt endloser Abstimmungsmeetings. Regeln aussetzen, um schnell handlungsfähig zu sein. Um das wirtschaftliche Überleben zu sichern, sind Erfindergeist und Flexibilität gefragt.
Führung erlebbar machen
Was ist in meiner eigenen Organisation möglich, wenn andere in kürzester Zeit tägliche Corona-Updates aus dem Boden stampfen und ganze Führungskräftetagungen virtuell stattfinden lassen? Wie können allen Sorgen zum Trotz virtuelle Erlebnisse geschaffen und Gemeinschaft zelebriert werden? Aus den Erfahrungen der letzten Wochen leiten wir folgende fünf Handlungsempfehlungen ab:
Souverän und verlässlich kommunizieren
Die Informationen müssen fließen, um die Deutungshoheit zu behalten. Ob tägliche Team-Calls, Corona-Newsletter oder wöchentliche Videobotschaften vom Vorstand. Eine regelmäßige, verbindliche und transparente Kommunikation ist entscheidend, um Vertrauen aufzubauen. Einordnen und benennen, was unbekannt ist. Das Vorgehen gut begründen und – soweit möglich – einen Ausblick geben auf die nächsten Schritte. Das wirkt authentisch und ehrlich zugleich.
Den Menschen in den Mittelpunkt stellen
Auch ohne persönlichen Kontakt sitzt am Ende der Leitung weiter ein Mensch. Teilweise isoliert, verunsichert oder überfordert. Die aktuelle Situation nagt an allen, auch an den Führungskräften. Daher gilt es jetzt besonders, Menschlichkeit zu zeigen und zuzulassen. Ein Teamleiter, der das persönliche Gespräch mit jedem Einzelnen sucht und ehrlich nach dem Befinden fragt, zeigt Empathie und Führungsstärke. Auch mal Druck rausnehmen oder Lob und Bestätigung aussprechen. Gerade an der sozialen Kompetenz wird sich nach der Krise zeigen, wer erfolgreich Teams führen kann.
Proaktiv neue Arbeitsweisen vorantreiben
Die Zusammenarbeit zwischen den vielen neuen „Standorten“ muss neu gestaltet werden, um den Laden sprichwörtlich am Laufen zu halten. Der Umgang mit virtuellen Tools und Formaten ist für die meisten Neuland. Es gilt: Werbung für hilfreiche Tools machen, Vorteile an konkreten Beispielen aufzeigen und immer wieder Learnings und Best Practices teilen. Das Festlegen von regelmäßigen Abstimmungen, Pausenzeiten und virtuellen Kommunikationsregeln hilft zusätzlich, den Arbeitsalltag neu zu strukturieren.
Freiräume ermöglichen und pragmatisch bleiben
Die Qualität der Arbeitsergebnisse in virtuellen Teams hängt nicht nur von einer funktionierenden IT-Infrastruktur, sondern auch von einer starken Beziehungs- und Kommunikationskompetenz der Führung ab. Das Fehlen von nonverbalen Beziehungsmustern im virtuellen Raum führt zu einem erhöhten Bedarf an glaubwürdiger Kommunikation sowie an klarer Prozess- und Strukturtransparenz. Herrschaftswissen und Kontrollanrufe helfen nicht weiter und können zu Frustration und Demotivation führen, die auf Distanz nicht mehr eingefangen werden können. Mitarbeiter stärker einzubinden und ihnen Verantwortung zu übertragen, fördert den Vertrauensaufbau. Dabei können agile Arbeitsweisen unterstützen: pragmatische Lösungen zulassen, auf das Wissen vieler bauen, offene Diskussionen anstoßen und Fehler als entwicklungsfördernd begreifen. Den Kulturwandel hin zu einer agilen Denkweise und Organisation braucht es nicht zwingend, aber der (Spiel-)Raum dazu kann jetzt eröffnet werden.
Weiter als Team agieren
Ob das morgendliche Treffen in der Kaffeeküche oder der kurze Plausch auf dem Gang: Der persönliche Austausch fehlt und bleibt im Homeoffice oft auf der Strecke. Gemeinsam neue Rituale zu etablieren, ist essenziell, um den Zusammenhalt zu fördern. Hier gibt es keine Richtlinien. Nur den Aufruf auszuprobieren, was für das eigene Team passt. Von virtuellen Kaffeepausen über Telefon-Bingo bis hin zur abendlichen Video-Happy-Hour. Ein kollegiales und humorvolles Miteinander sollte trotz Distanz nicht auf der Strecke bleiben. Für das gemeinsame Erleben von Erfolgen bietet sich die Nutzung kollaborativer Kommunikations- und Beteiligungsformate an.
Die Zukunft im Blick behalten
Noch ist ungewiss, was passieren wird, wenn die Wirtschaft wieder aus ihrem künstlichen Koma geweckt wird. Nach aktuellen Prognosen wird es wahrscheinlich eine langsame Aufwachphase. Zeit genug, nach Wochen im Ausnahmezustand einmal innezuhalten, zu analysieren und zu entscheiden: Welches (Führungs-)Verhalten und welche Routinen sind es wert, in der neuen Realität fortgeführt zu werden?
Wir stellen fest: Gerade im Krisenmodus ziehen alle an einem Strang, bringen neue Ideen schnell auf die Straße und halten gemeinsam durch. Doch was passiert, sobald alle wieder in ihren Büros sitzen und die Krise vorerst überstanden ist? Die Gefahr ist groß, wieder zurück in die alten Muster zu fallen. Neu erworbene Fähigkeiten und der frisch aufgebaute Teamspirit werden im Homeoffice zurückgelassen. Dabei ist es gerade nach dem Lockdown entscheidend, ein motiviertes und schlagkräftiges Team zu haben, um sich den anschließenden Herausforderungen zu stellen.
In der jetzigen Phase erprobtes Verhalten, Tools oder Formate können die Zusammenarbeit in der Zukunft sinnvoll ergänzen und verbessern. Wichtig ist, konkreten Nutzen aus den Erfahrungen zu ziehen, Best Practices zu identifizieren und festzuhalten. Welche Arbeits- und Verhaltensweisen sollen strukturell verankert werden, weil sie auch im Normalbetrieb Zeit und Kosten sparen? Welche eignen sich nur für eine nächste Ausnahmesituation? Welche haben sich als überhaupt nicht nützlich erwiesen?
Der aktive Umgang mit den Erfahrungen und Learnings schafft eine Resilienz, die mit Blick auf die Zukunft den entscheidenden Ausschlag geben kann. Denn eines ist sicher: Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Willkommen in der neuen Wirklichkeit.
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