Führung im Wandel

Von Egbert Deekeling

Führungskräfte reagieren auf die Ankündigung von Kultur­wandel abwartend und skeptisch. Angesichts über­inszenierter Kick-off Events ist ihre Reaktion zunächst einmal nach­voll­ziehbar. Zurückhaltung und Zögerlich­keit haben aber auch mit ihrem Führungs­verständnis zu tun und mit einer paradoxen Wahrnehmung ihres eigenen Führungs- und Kommunikations­verhaltens. Davon ist hier die Rede.

Die Initialisierung eines Kulturwandels in Unternehmen und Konzernen beginnt mit der Proklamation neuer Unternehmens­werte und im nächsten Schritt mit der Hervorhebung der Vermittler­rolle von Führungskräften. Sie sind die „Träger des Wandels“, sie sollen die neuen Werte „verkörpern“, diese „mit Leben füllen“ und ihren Mitarbeitern begreiflich machen.

Das geschieht ebenso ritualisiert auf Top-Führungskräfte-Veranstaltungen und mündet im sogenannten ‚Commitment Act‘. Hier erfolgt die symbolische, manchmal sogar pathetische Verpflichtung der nächsten Führungs­ebenen, diese Aufgabe und Rolle auch auszufüllen! Diese ‚Eventisierung‘ in der ersten Phase des Kulturwandels ist dabei allerdings immer mit zwei Effekten verbunden. Auf der einen Seite erzeugt eine emotionale Ansprache durchaus Momentum und berührt die Herzen der teilnehmenden, doch zumeist sachlich denkenden Führungskräfte. Auf der anderen Seite wird gerade diese Inszenierung als ein nur einmaliges Ereignis wahrgenommen. Danach geht man wieder auseinander und seinen Geschäften nach.

PERSÖNLICHE TRANSFERLEISTUNG

Aus der Sicht von CEO und Topmanagement bedeutet dieses Event aber viel mehr. Sie stoßen damit einen Prozess an, der im Beratersprech ‚Strategic Alignment‘ genannt wird, aber ausnahmsweise mal Ziele und Vorgehen präzise bezeichnet: CEO und Topmanagement erwarten im nächsten Schritt von „ihren“ Führungskräften auf der zweiten und dritten Ebene eine Auseinandersetzung mit dem strategischen Vorhaben – dazu gehören Kulturwandel, die Aneignung ihres Auftrags sowie die Akzeptanz ihrer Erklärungsaufgabe. Sie setzen auf eine höchstpersönliche Transferleistung ihrer Kolleginnen und Kollegen, und zwar unabhängig von begleitenden Unterstützungsmaßnahmen, also inhaltlicher oder didaktischer Handreichung und Hilfe von Seiten der Unternehmenskommunikation und des HR-Bereichs.

Mit anderen Worten: Das Topmanagement vertraut darauf, dass ihre Führungskräfte entsprechend handeln. Aus ihrer Perspektive ist dieses Vertrauen eine Vereinbarung, ein Kontrakt zwischen Unternehmen, Unternehmensführung und vor allem CEO und Führungskraft. Dieser Kontrakt folgt einem altbekannten, fast schon feudalen Prinzip: Du kämpfst für meine Sache und dafür erhältst du einen Teil meines Landes oder meiner Einnahmen. Übersetzt ins Diesseits heißt das: Du wirst dafür bezahlt, mich zu unterstützen, und du wirst dafür bezahlt, dass ich auf diese Unterstützung vertrauen kann. Das ist der Deal: ein Loyalitätspakt.

Aus der Sicht der so angesprochenen Führungskräfte allerdings wird dieser Erwartungsanspruch gerade mit Blick auf Kulturwandel nicht erkannt, geschweige denn anerkannt. Mehr noch: Die Verpflichtung, im Sinne der Unternehmensführung und ihrer Ziele zu sprechen und zu erklären, wird als Zwangsverpflichtung empfunden.

Der Grund dafür: Kulturwandel adressiert nun mal die Notwendigkeit von kollektiven und individuellen Einstellungs- und Verhaltensänderungen. Neue Werte geben hier eine Orientierung. Aber sie verweisen eben immer auch auf Defizite der real existierenden Geschäfts- und Prozesskultur. Damit implizieren sie auch Kritik an persönlicher Handlungs- und Führungspraxis. Darauf wird Pavlow-mäßig reagiert: Die latente Kritik wird mit dem berühmten „Aber du“-Konter zurückgewiesen. Die Aufforderung zur Verhaltensänderung stante pede retourniert, beides nach dem Motto: Dann fangt doch einmal selbst damit an! Und: „Solange wir das nicht erleben, halten wir uns schön zurück!“

Diese so allgemeinen und einfachen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Initiatoren erleichtern das Leben ungemein und legitimieren grundsätzlich Zurückhaltung und Zögerlichkeit in Bezug auf selbstkritische Überprüfung und Lernbereitschaft. Und diese Bequemlichkeit verhindert dann eben auch jede Motivation, den proklamierten Kommunikations- und Führungsauftrag anzunehmen und auszuführen. „Abwarten und Tee trinken“ heißt die Devise – und: „Lass uns wieder an die Arbeit gehen!“

VERENGUNG DER FÜHRUNGSPRAXIS

Damit sind wir bei einem weiteren interessanten und typischen Phänomen der Verweigerungspraxis: der weitverbreiteten Vorstellung, dass die eingeforderte Erklärungs-und Vermittlungsaufgabe gar nicht zur eigentlichen Arbeit gehört. In diesem Verständnis verengt sich Führungspraxis auf die Steuerung von Geschäfts- oder Produktionsprozessen. Nun kann man dieser Einstellung mit einigem Verständnis begegnen. Über Kulturwandel reden, noch dazu über Werte, deren Bedeutung nicht sofort erkennbar ist, ist weder einfach noch jedermanns Sache. Aber die Unternehmensführung erwartet Einsatz und Umsetzung und – was in dieser Phase ebenso wichtig ist – auch die Mitarbeiter erwarten Erklärung und Interpretation, vor allem von Themen, die eben nicht so schnell zu verstehen sind. Diese Leistung müssen Führungskräfte erbringen, diese Leistung gehört zu ihrer Arbeit.

Kurioserweise unterschätzen Führungskräfte diesen Anspruch ihrer Mitarbeiter gerne. Wir erleben hier ein Phänomen, das man als Führungsparadoxon bezeichnen kann. Führungskräfte erwarten von ihren Vorgesetzten „über ihnen“ präzise Erklärung von Bedeutung und Zusammenhängen unternehmensstrategischer Entscheidungen.

Bleibt diese aus oder erfolgt nur unzureichend aus ihrer Sicht, reagieren sie äußerst ungehalten und beschweren sich, leise oder lautstark. Die gleichen Führungskräfte ignorieren aber gerne und geflissentlich, dass ihre Mitarbeiter „unter ihnen“ den exakt gleichen Anspruch erheben und eben auch Erklärungen erwarten.

Es kann hilfreich sein, sich den beschriebenen Reaktions- und Haltungsmodus mal kurz zu vergegenwärtigen. Es kann ein erster Schritt sein, das einzulösen, was in jedem Fall Voraussetzung für Kulturwandel ist: gegenseitiges Vertrauen, um nicht zu sagen ‚Trust‘ zwischen Unternehmensführung, Führungskräften und ihren Mitarbeitern.


Eine gekürzte Version erschien in FOLIO, der Mitarbeiterzeitung von EVONIK, Ausgabe 01/2019.