Geopolitik

Von Egbert Deekeling

Seit Monaten hat sich Corporate Germany auf eine „Zeiten­wende“ vorbereitet. Es gilt, Antworten auf die epochale Heraus­forderung unserer Zeit zu finden – den Klima­wandel. Geschäfts­modelle kommen auf den Prüf­stand; Strategien werden komplett neu ausgerichtet. Alte Glaubens­sätze werden über den Haufen geworfen. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Von einer gemein­samen großen Kraft­anstrengung ist immer wieder die Rede. Unternehmens-Narrative glänzen mit Super­lativen.

Als großer „Game Changer“ wurde der Klima­wandel in den letzten Monaten zur alles prägenden Determinante für zukünftiges unter­nehmerisches Handeln. An ihm richtete sich alles aus: Die Strategie-Agenda, die jetzt über die Mifri-Planung hinaus lang­fristig angelegt wird. Die Kommunikation des Unter­nehmens, die die Licence to Operate und gesell­schaft­liche Relevanz des Unter­nehmens angesichts neuer Stakeholder-Erwartungen neu begründen muss.

Gerade schien alles eingerichtet und neu aufgestellt zu sein für die Gestaltung eines neuen klima­neutralen Zeitalters und die zügige Trans­formation von Wirt­schaft und Gesell­schaft. Nicht weniger als ein globales Menschheits- und Jahrhundert-Projekt.

Doch dann kam der 24. Februar 2022. Dann kam eine ganz andere „Zeiten­wende“, die keiner wirklich auf dem Schirm hatte. Trotz aller großen und tief­gehenden strategischen Analysen unter­nehmerischer Rahmen­bedingungen, die gerade in den letzten Monaten angestellt wurden. Und trotz der langen und für alle sicht­baren Vorgeschichte des Angriffs­krieges. Aber ein Krieg in Europa – das war für alle schlicht­weg nicht mehr vorstell­bar. Der Glaube, dass sich das schon irgend­wie lösen und beiseite räumen ließe, überdeckte alles. So ist es nicht verwunder­lich, dass auch kurz vor seinem Ausbruch die wirt­schaft­lichen und unter­nehmerischen Risiken eines möglichen Krieges in der Ukraine kaum Eingang fanden in Unter­nehmens-Verlaut­barungen zu Strategie und Ausrichtung in den nächsten Jahren.

Ausblendung der Geopolitik als Determinante unter­nehmerischen Handelns

Der 24. Februar offenbart schlag­artig einen blinden Fleck im Strategie-Denken deutscher Unternehmen. Gigabytes von Markt­forschungs- und Research-Analysen zu Markt­ent­wicklungen, Mega­trends und Wett­bewerbern unter­füttern Strategie­entwicklung und -narrativ mit Fakten und Argumenten. Was sie aber nicht liefern, sind Erkennt­nisse und Erklärungen zu globalen Macht­ver­schiebungen und ihren Aus­wirkungen auf Handel und Wirtschaft. Szenarien-Denken auf Grund­lage geo­politischer Entwicklungen? Wirt­schaft­liche und unter­nehmerische Interpretation geo­politischer Macht­konstellationen? Weitest­gehend Fehl­anzeige. Geopolitik als strategische Determinante unter­nehmerischen Handelns wird damit weit­gehend ausgeblendet.

Darin zeigt sich auch ein kollektives Versäumnis von Strategie-Beratungen und Mega­trend­forschung über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg. Auch jetzt noch – vier Monate nach dem Überfall – sind die bekannten Themen auf den Internet­seiten der großen Strategie­beratungen vorherrschend. Vielleicht ein aktueller Artikel zur Bewertung des Ukraine-Krieg – mehr nicht. Grund­sätzliche Analysen zur neuen strategischen Relevanz von Geo­politik fehlen. Die Sprach­losig­keit ist ohren­betäubend. Auch die Megatrend­forschung – ansonsten immer schnell mit der Verarbeitung neuer Entwicklungen voll­mundig und wort­reich dabei – ist diesmal still. Auch hier: bisher keine große Reflexion, kein grund­sätz­liches Hinter­fragen.

Dabei sind Antworten auf die neuen geo­politischen Grund­satz­fragen im Rahmen der Strategie­erklärung dringend notwendig. Bisher gab es bei allen Stake­holdern keinen großen Anlass, ent­sprechende Fragen zu stellen. Strategie als geo­politik­freie Zone war in Corporate Germany über­wiegend Konsens. Doch das wird sich in den nächsten Monaten ändern. Grenzen­lose Globali­sierung als unhinter­fragtes Paradigma unter­nehmens­strategischen Denkens scheint mit einem Schlag zerstört. Stake­holder werden eine geo­politische Reflexion für die Erklärung von Strategie und Ausrichtung des Unter­nehmens in den nächsten Jahren zunehmend einfordern.

Was das alles konkret heißt und bedeutet, ist heute nur ansatz­weise erkennbar. Eines aber scheint klar: Die Grund­muster unter­nehmerischen Strategie-Denkens in Deutsch­land müssen über­prüft und erweitert werden. Drei Thesen seien hier zur Diskussion gestellt. Sie betreffen gleicher­maßen die Entwicklung von Strategie und Strategie-Narrativ.

1. Resilienz wird zum zentralen Referenz­punkt für Strategie-Narrativ und Equity Story

Resilienz first! Bestimmten bisher Wachstums­ziele unter­nehmerische Vorhaben und die Ausrichtung des Strategie-Narrativs, so wird sich das ändern. Resilienz erfährt mit Blick auf die geo­politischen Risiken und Heraus­forderungen eine grund­sätzliche Aufwertung ihrer Bedeutung. Ohne diese Resilienz sind Wachstums­ziele nichts. Das werden Kapital­märkte und Investoren zunehmend bei der Bewertung von Unter­nehmen durch­leuchten. Jede Wachstums­story muss einher­gehen mit der Beweis­führung der Wider­stands­fähigkeit von Markt­strategien und Geschäfts­modell hin­sichtlich geo­politischer Risiken. Sonst bleibt es bei der Vorstellung wohlfeiler Elfenbein­türme.

Das erfordert wiederum ein erweitertes Verständnis von Risk Management. Gefragt ist ausgewiesene geo­politische Expertise „beyond markets“. Geo­politische Risiko­einschätzungen werden zu einem integralen Bestand­teil der SWOT-Analyse. Es wird in Zukunft nicht mehr reichen, dass Markt­strategien von Unter­nehmens­beratungen komplett den strategischen Diskurs prägen. Management- und Strategie-Beratungen verlieren ein gutes Stück ihrer Deutungs­hoheit – es sei denn, sie engagieren ab jetzt CIA- oder BND-Analyst:innen.

2. Die geopolitische Realität erfordert eine neue Gewichtung politischer Einfluss­faktoren

Das neue geo­politische Risk Management stellt auch den alten Libera­li­sierungs-Deal zwischen Unternehmen und Politik in Frage. Er beruhte auf einer klaren Trennung der Akteure von Politik und Wirtschaft: Ihr öffnet uns Märkte und gewähr­leistet stabile Rahmen­bedingungen für Handel und Wirtschaft, wir schaffen über den Markt Wachstum und Wohl­stand. Dieser Konsens funktioniert nicht mehr. Denn der Markt regelt eben nicht alles. Das ist die bittere Lehre der letzten Monate.

Wachstum und Wohl­stand hängen wieder stärker von den Interessen des Staates oder Staaten­gemeinschaften ab. Das betrifft vor allem den Zugang zu Roh­stoffen und Energie­trägern. Die markt­wirt­schaftliche Organisation dieses Zugangs verliert an Relevanz, wenn sie nicht gleich­zeitig Souveränitäts­interessen des Staates sichert. Die Diskussionen um die Gas­speicher und Nord­stream 2 haben das dramatisch deutlich gemacht. Die Wirtschaft muss daher vermehrt auch aus eigenem Interesse geo­politische Prämissen des Staates berück­sichtigen und zum Teil ihres strategischen Denkens machen.

Das macht einen neuen intensiven Dialog und entsprechende Gesprächs­formate zwischen Politik und Wirt­schaft notwendig, durch die Prioritäten bei strategischen Ziel­setzungen neu ausge­handelt werden. Es gilt, unternehmens­strategische Themen gemeinsam mit politischen Gremien und Sach­verstand zu prüfen und zu bewerten. Der Abgleich von Interessen trifft sich im geo­politischen Risk Management. Einer­seits mit Blick auf die Resilienz von Staat und Volks­wirt­schaft, anderer­seits mit Blick auf die Resilienz des Unter­nehmens.

3. Fundamentale Ziel­konflikte und Handlungs­dilemmata müssen adressiert werden

Robert Habeck entwickelt sich in den letzten Monaten zu einem neuen Role Model der politischen Verlaut­barung. Das hat auch viel mit seiner Vermittlung fundamentaler Ziel­konflikte zu tun. Das spürbare Ringen um die richtigen Worte, die Reflexion des eigenen „Lern­prozesses“, der pragmatisch-erklärende Klartext – das alles schafft Überzeugungs­kraft und Glaub­würdig­keit trotz schwer lösbarer Handlungs­dilemmata.

Der Minister für Wirtschaft und Klimaschutz steht mit seinem Ringen um die richtigen Worte stell­vertretend dafür, was an Erklärungs­aufgaben zukünftig auf Unternehmens­lenker:innen zukommt. Bisher hieß es, die Politik solle sich aus der Wirtschaft heraushalten. Jetzt müssen Unter­nehmen selbst im Kampf zwischen Freiheit und Diktatur Stellung beziehen und Haltung zeigen. Das erwarten die Stake­holder. Und das verlangt der Purpose.

Denn das Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie und Rechts­staat­lichkeit im Rahmen von ESG- und Nachhaltig­keits­strategien ist kein einfacher Lip Service, sondern eine ganz praktische Frage des täglichen unter­nehmerischen Handelns. Und mehr noch: Es gilt – wie bei Robert Habeck –, un­an­genehme Güter­abwägungen zu treffen und zu vertreten: Wo wollen wir zuerst die Welt retten? An der Freiheits­front? An der Klima­front? Können wir mit der Diktatur in Katar zusammen­arbeiten? Weil sie uns hilft, uns unabhängig von einer anderen Diktatur zu machen? Ähnlich gelagerte Fragen werden zukünftig auch Unter­nehmen und ihre Vorstände zu beant­worten haben. Davon wird gesell­schaft­liche Akzeptanz, politischer Good­will und Identifikation nach innen erheblich abhängen.

Auf die Unternehmens­kommunikation kommt verdammt viel Arbeit zu

Die pointierten und skizzen­haften Thesen können nur eine erste – und natürlich unvoll­ständige – Anregung zur Diskussion sein, was der 24. Februar für das unter­nehmerische Strategie-Denken bedeutet. Gewiss ist sicherlich eines: Die Unter­nehmens­kommunikation steht vor spannenden und anspruchs­vollen Aufgaben bei der Ent­wicklung und Vermittlung von Strategie und Strategie-Narrativ. Neues strategisches Framing, neue Erzähl­muster, neue und komplexe Erklärungs­aufgaben, neue Antworten auf veränderte Stakeholder-Erwartungen, Stimulierung eines erweiterten Strategie-Denkens im Unter­nehmen. Das alles spricht dafür, dass Relevanz und Einfluss der Unternehmens­kommunikation in den nächsten Jahren deutlich zunehmen werden.

Der Beitrag erschien unter dem Titel „Es hat geknallt! – Geo­politische Disruptionen erfordern eine Erweiterung des unter­nehmerischen Strategie­denkens“ im Magazin „kommunikations­manager“, Ausgabe 02 / 2022. Sie finden den Original­beitrag hier zum Download.

Foto: iStock.com/Floriana

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