Geopolitik

Zäsur, Zeitenwende, geopolitische Neuausrichtung

Der Krieg in der Ukraine markiert in den Worten der Bundes­regierung eine „Zeiten­wende“. Er beendet eine 30-jährige Friedens­periode im Westen. Die globalisierte Welt, deren Vorzüge wir in den letzten Jahr­zehnten nutzen konnten, steht vor einer grund­legenden Neu­aus­richtung.

Bereits in den letzten Jahren hatte der Welt­handel mit der Präsident­schaft Donald Trumps, den daraus folgenden Handels­konflikten sowie den Einbrüchen im Zusammen­hang mit der Corona-Pandemie erhebliche Rück­schläge erlitten. Mit dem russischen Krieg, der täglich unerträg­liches Leid über die ukrainische Bevölkerung bringt, drohen neue Verwer­fungen. Dies gilt in einem besonderen Maße für eine export­orientierte Volks­wirtschaft wie die deutsche. Die westliche Welt hat sich als Antwort auf die Aggression Russlands in der Ukraine als sehr geschlossen und wehrhaft gezeigt. Dennoch drohen lang­fristige Konsequenzen für die Zusammen­arbeit der Staaten­gemeinschaft. Für die hiesigen Unternehmen wird diese Zeiten­wende massive Konsequenzen haben. Bundes­kanzler Olaf Scholz warnte Ende April bereits ein­dring­lich vor den Aus­wirkungen einer De­globali­sierung.

Ein hoher Anteil der hiesigen Wert­schöpfung ist auf der ausreichenden Verfüg­barkeit günstiger, vor allem fossiler Energien aufgebaut. Die Abhängig­keit geht so weit, dass Deutsch­land Bedenken gegen ein schnelles Embargo von Öl- und Gas­lieferungen aus Russland anmelden musste. Vier Fünftel unseres Endenergie­verbrauchs sind fossil und damit auch 32 Jahre nach Festlegung der ersten bindenden Klima­schutz­vorgaben weit von einer erfolg­reichen De­karbonisierung entfernt. Der Energie­träger Erdgas als „Brücke zur Klima­neutralität“ ist keine wirkliche Option mehr, diese Brücke ist „ein­gestürzt“. Mit Flüssig­gas aus aller Welt lässt sich russisches Pipeline­gas mengen­mäßig nur sehr schwer, aber in keinem Fall wett­bewerbs­konform kompensieren.

Wir haben in den letzten 30 Jahren eine Friedens­dividende verteilt, die nun nicht mehr vorhanden ist. Eine funktionierende Sicher­heit schienen die USA zu garantieren, die Kosten der Nutzung fossiler Energien haben wir Richtung Atmosphäre externa­lisiert. Diese Rechnungen gehen volks- und auch betriebs­wirt­schaftlich nicht mehr auf. Dies belegen die geplanten Mehr­ausgaben für die Verteidigung und die not­wendige Beschleunigung der Energie­wende, um noch schneller unab­hängig von fossilen Energien zu werden.

Kohle kann maximal für ein paar Jahre not­dürftig als Gas­ersatz dienen, um die Versorgungs­sicherheit zu gewähr­leisten. Gerade für die Grund­stoff­industrie, vor allem die Stahl- und Chemie­industrie, ergeben sich weit­reichende Konsequenzen. Im Stahl­bereich war Erd­gas fest als Übergang eingeplant, bis ausreichend klima­freundlicher Wasser­stoff für die Her­stellung von „grünem“ Stahl verfüg­bar ist, die Chemie­industrie ist wie kein zweiter Sektor „erdgas­affin“ und auf Erd­gas als Energie­träger und Roh­stoff angewiesen. Die daraus folgenden Konsequenzen für eine Reihe nach­gelagerter Sektoren – wie die Auto­mobil­industrie oder alles, was mit Arznei­mitteln, Farben, Lacken, Dämm­material oder Wasch­mitteln zu tun hat – liegen auf der Hand.

Klimaschutz verschärft den Anpassungs­druck

Durch den Krieg in der Ukraine wird aber dem Klima­schutz nichts von seiner Dringlichkeit genommen. Dies belegt nachdrücklich der 6. Sach­stands­bericht des rang­höchsten Klima­gremiums, des IPCC. National setzt das „Oster­paket“ Weg­marken zur dringend erforder­lichen Beschleunigung des Aufbaus Erneuer­barer Energien. International hat die US-amerikanischen Börsen­aufsicht SEC mit ihren neuen „Climate Related Disclosure Rules“ Maß­stäbe gesetzt. Diese am 21. 03. 2022 verab­schiedeten Vorgaben bilden ein neues Rahmen­werk für die unter­nehmerische Bewertung von Klima­risiken, daraus resul­tierenden weit­reichenden Konsequenzen in der Governance und der Finanz­bericht­erstattung der Unternehmen. Die Konsequenzen werden weit über den nord­amerikanischen Markt hinaus­reichen. Vor dem Hinter­grund eines enorm gestiegenen Drucks der Finanz­märkte und von akti­vistischen Investoren im Bereich des Klima­schutzes sollte man diese Weichen­stellungen sehr ernst nehmen.

Auf mehr als 500 Seiten legt die SEC detailliert fest, was sie von Unter­nehmen, die sich auf den Finanz­märkten betätigen, in Sachen Klima­vorsorge erwartet: genaue Angaben der Unter­nehmen, welche physischen Klima­risiken sie ausgesetzt sind, in welchen risiko­behafteten Gebieten sich ihre Assets befinden, welche operativen und trans­aktions­bezogenen Risiken drohen, wie die unter­nehmerische Governance diese Risiken angemessen adressiert und wie das Manage­ment diese Risiken bewertet und hand­habt. Hinzu kommt die Pflicht zur Nennung konkreter Klima­ziele, die neben eigenen Emissionen im Produktions­prozess (Scope 2) auch die vor- und nach­gelagerten Wert­schöpfungs­ketten (Scope 1 und 3 Emissionen) einbeziehen.

Man kann ein­wenden, dass die Vor­schläge der SEC noch nicht Rechts­kraft haben. So oder so bleibt der Druck von den Finanz­märkten aber auch aus der Gesell­schaft in Richtung auf mehr Klima­schutz hoch. Die Unternehmen tun gut daran, diese Entwicklungen in ihrer Neu­aus­richtung zu berück­sichtigen.

Unternehmen müssen sich neu ausrichten

Die Unternehmen müssen ihre Liefer­wege und Wert­schöpfungs­ketten einer völlig neuen geo­politischen Wirklich­keit und neuen Anforderungen an Ressourcen­effizienz und Umwelt­schutz anpassen. Verstärkt wird dies durch neue Vorgaben aus dem Europäischen Liefer­ketten­gesetz, mit denen unter­nehmerische Sorg­falts­pflichten in der Beschaffung deutlich härter und umfassender geregelt werden sollen als in bisherigen deutschen Gesetzes­vorgaben. Wie dies angesichts des enormen Roh­stoff­hungers der deutschen Industrie bei einem dauer­haften Weg­fall des Zugangs zu den russischen Roh­stoff­vorkommen – von Erdöl und Erd­gas über Palladium bis zu den Seltenen Erden – gelingen kann, dürfte in vielen Unter­nehmen derzeit für Kopf­zerbrechen sorgen. Unter Sicherheits- und Versorgungs­sicherheits­gesichts­punkten ist dies aber alternativlos.

Mit auf dem Prüf­stand stehen entstandene ein­seitige Abhängig­keiten der Unter­nehmen von wenigen Zuliefer- und Absatz­märkten. Natürlich haben die Unter­nehmen in der Steuerung ihres Einkaufs und ihrer Logistik IT-gestützt erhebliche Fort­schritte gemacht. Aber diese Algorithmen brauchen nun auch einen starken politischen Radar.

Die US-amerikanische Finanz­ministerin Janet Yellen prägte Mitte April einen bemerkens­werten Begriff: Sie sprach in einem Vortrag vor dem Atlantic Council am 13.04.2022 von der Not­wendig­keit, die Sicher­heit der west­lichen Welt dadurch zu erhöhen, dass bestehende Wert­schöpfungs­ketten von den Unter­nehmen weg von einem „Off Shoring“ hin zu einem „Friend Shoring“ überführt werden. Länder­risiken müssen neu justiert werden. Es wird sicher zukünftig keinen „Chief Geopolitical Risk“-Officer in den Unter­nehmen geben müssen, wie es Christoph Seibt zu Recht im Manager Magazin anmerkte (Artikel vom 29.04.22). Aber es bedarf einer sorg­fältigen Debatte, wo sich Klumpen­risiken auf den Beschaffungs- und Absatz­märkten ergeben haben. Nach dem 24.02.2022 ist dies, insbesondere mit Blick auf den chinesischen Markt, auch Teil einer umfassenden Neubewertung in der deutschen Auto­mobil­industrie.

Die Welt ist nicht mehr „flach“, wie es vor wenigen Jahren angesichts der Möglich­keiten der Globali­sierung erschien. Die Wirt­schafts­welt der Zukunft wird wieder stärker von Welt­handels­blöcken und daraus entstehenden stärkeren politischen Unsicher­heiten geprägt sein. Die unter­nehmerischen Risiken nehmen massiv zu.

Der Beitrag erschien im Online-Magazin RestructuringBusiness, Ausgabe 2 / 2022. Sie finden den Artikel hier zum Download.

Foto: iStock.com/Daniel T. Hulse

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