Dialog und Beziehungsaufbau in der hybriden Welt
Digitale Kommunikation ist aus keinem Unternehmen wegzudenken. Es geht um Präsenz auf digitalen Meinungsmärkten, um den Zugang zur jungen Generation, um eine zeitgemäße Interne Kommunikation. Diese Entwicklung ist in den letzten 18 Monaten durch Covid-19 noch einmal massiv beschleunigt worden. Doch der Transparenz-Imperativ der digitalen Welt erschüttert alte Gewissheiten von Beziehungs- und Vertrauensaufbau. Dazu muss Kommunikation einen Zugang finden.
Zwei Orte mit zwei Geschehnissen, die nicht unterschiedlicher sein könnten. So scheint es auf jeden Fall.
In Berlin kommen nach der Bundestagswahl die Parteispitzen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP zu einem ersten Gespräch zusammen. Ihre einzige Botschaft lautet: Wir wollen gemeinsames Vertrauen aufbauen. Sonst hört und liest man nichts. Es herrscht Funkstille. Die Hauptstadtmedien reagieren gereizt bis beleidigt: Rückkehr zur Hinterzimmer-Politik. Oder gar: undemokratisches Verhalten. Das Einzige, was dann die Titel und alle Schlagzeilen beherrscht, ist ein Selfie. Wissing, Baerbock, Lindner, Habeck – wie unter Freunden.
Ortswechsel: Wien ein paar Wochen später. Ein politisches Erdbeben erschüttert die Alpenrepublik. Bundeskanzler Kurz sieht sich staatsanwaltlichen Ermittlungen ausgesetzt und „tritt beiseite“, wie er es nennt. Es geht um den Verdacht der Untreue, Bestechlichkeit und Bestechung. Die Grundlage dafür bildet vor allem eine Unzahl an Chats. Sie offenbaren Ungeheuerliches. Ungeschminkte Absprachen zur Vernichtung des politischen Feindes – wie in einer verschworenen Gemeinschaft.
Zwei Geschehnisse, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Und doch haben sie ein entscheidendes Gemeinsames. Sie erklären sich aus dem unerbittlichen Transparenz-Imperativ der digitalen Welt.
Zurück nach Wien. Dort haben die Akteure das Wort Chat wohl allzu wörtlich genommen: das private Gespräch und Plaudern – informell, vertraulich, flüchtig. Dabei ist in der digitalen Welt rein gar nichts nur so gesagt. Alles ist digital protokolliert, niedergeschrieben, abrufbar. Ein Click – und alles wird zugänglich, transparent und für die Öffentlichkeit verfügbar. Kurz und seine Kameraden haben die digitale Welt mit einem Raum der Vertraulichkeit verwechselt und sich ihr anvertraut. Sie sind der digitalen Illusion von Privatheit auf den Leim gegangen. Das war ihr Fehler – und ihre Dummheit.
Anders in Berlin. Dort hat man aus den Fehlern der gescheiterten Jamaika-Koalitionsverhandlungen 2017 gelernt. Vertrauensbildung braucht Vertraulichkeit. Und Vertraulichkeit braucht den geschützten Raum – und Intransparenz nach außen. Das aber ist in der digitalen Welt nicht zu machen. Wenn es um Vertrauen geht, ist ihr zu misstrauen. Es braucht die Distanz zur digitalen Kommunikation, damit inhaltliche, vertrauensbildende Prozesse überhaupt zustande kommen. „Funkdisziplin“ galt deswegen als wichtigste Devise. Bis auf das Selfie als neue Ikone des inszenierten Vertrauens.
Covid-19 als Game-Changer und Accelerator
Beide Geschehnisse verweisen auf eine grundsätzliche Herausforderung, mit der sich auch die Unternehmenskommunikation auseinandersetzen muss: das Verhältnis von digitaler Kommunikation und ihren Auswirkungen auf Beziehungsaufbau und Vertrauen.
Digitale Kommunikation ist aus keinem Unternehmen wegzudenken. Es geht um Präsenz auf digitalen Meinungsmärkten, um den Zugang zur jungen Generation, um eine zeitgemäße Interne Kommunikation. Diese Entwicklung ist in den letzten 18 Monaten durch Covid-19 noch einmal massiv beschleunigt worden. Niemand kann sich ihr entziehen. So gut wie alle Bereiche und gesellschaftlichen Gruppen sind davon betroffen. Die Pandemie wirkt als Game-Changer. Sie hat einen grundlegenden Paradigmenwechsel eingeleitet: weg von der physischen Welt – hin zur digitalen Welt. Leben und Arbeiten finden seitdem in nicht gekanntem Maße im Cyber Space statt. Einem Raum, der keine Privatheit mehr kennt und in dem Transparenz das oberste Gebot ist.
Das hat auch den Alltag und die Kommunikation von Unternehmen noch einmal komplett auf den Kopf gestellt – mit Folgen für Beziehungsaufbau, Vertrauen und Bindung.
Die Interne Kommunikation – und mit ihr die Unternehmenskultur – erlebt eine gewaltige Disruption. In Konzernen vollzieht sich ein riesiges soziales Experiment. Wir erleben das Ende des Büros als Ort, an dem Menschen die meiste Zeit ihres Tages verbringen. Das Homeoffice ist endgültig zur Normalität und Regel geworden. Standorte verlieren als physischer Ort von Gemeinschaftserlebnis und Zusammengehörigkeit an Bedeutung. Digitale Medien und virtuelle Formate ersetzen Kommunikation und Austausch vor Ort. Das schlägt auch auf Führungsroutinen durch. Führungskräfte sind mit beispiellosen Herausforderungen konfrontiert. Führung basiert nicht mehr auf physischer Nähe sowie formellen und informellen Ritualen, die Empowerment, Schutz und Mentoring vermitteln. Damit droht auch die Identifikation mit dem Management und dem Unternehmen zu erodieren.
Public Affairs und Corporate Communications erleben einen weiteren kräftigen Digitalisierungsschub. Gesellschaftliche Aktivisten gewannen schon vor der Pandemie jenseits von NGOs und politischen Parteien zunehmend an Einfluss. Fridays for Future ist nur ein prominentes Beispiel – Rezo ein anderes. Sie setzen auf die volle Transparenz sozialer Medien. Die klassische „Hinterzimmer-Politik“ greift nicht mehr. Gesellschaftlicher Goodwill muss anders organisiert werden. Das „Targeting" von Einzelpersonen und Gruppen wird zu einem Schlüsselfaktor für öffentliche Meinungsbildung in der digitalen Welt – dort muss gesellschaftliche Akzeptanz hergestellt werden. Corona beschleunigt das: Konferenzen und Verhandlungen haben als Orte der Vertrauensbildung und gemeinsamer Vereinbarungen an Bedeutung verloren.
Ähnliches gilt für Financial Communications. Shareholder Value und Stakeholder Value sind zunehmend weniger auseinanderzuhalten. Stakeholder-Engagement und Aktionärsaktivismus erhöhen den Transparenzdruck und erfordern eine offensivere Rolle als Informationslieferant und Dialogpartner. ESG und Covid-19-Einschränkungen treiben eine radikale Digitalisierung der IR-Praxis voran.
Corporate Branding als Ausdruck von Identität und Bezugspunkt für Identifikation verliert an Bindungskraft. Auch das ist eine Entwicklung, die schon vor der Pandemie eingesetzt hat. Geschäftsmodelle, die verstärkt auf Joint Ventures, Business Partnering oder Sharing-Ansätzen beruhen, haben die Grenzen von innen und außen, von wir und die anderen durchlässig gemacht. Diese sind aber prägend für die Bildung von Identität und Identifikation. Mit der Disruption der Arbeitskultur und der verstärkten Dezentralisierung zwischen Büro und Homeoffice kommt eine weitere Zentrifugalkraft hinzu. Sie hat Auswirkungen auf Zugehörigkeitsgefühl und Loyalität – und damit auch auf Stolz und Engagement.
Neue Tektonik in der Unternehmenskommunikation
Interne Kommunikation, Corporate Communications und Public Affairs, Financial Communications und Corporate Branding – alle wichtigen Disziplinen der Kommunikation von Unternehmen sind von der massiven Verschiebung im Verhältnis von physischer und digitaler Welt betroffen. Wie aber sind dann die internen, öffentlichen und politischen Arenen der Unternehmenskommunikation neu zu bespielen, um weiterhin Beziehungsaufbau und Vertrauen zu ermöglichen? Allgemeingültige Rezepte gibt es noch nicht. Wir stehen vor einer Phase des Experimentierens und des Lernens. Erste Beobachtungen und Erfahrungen können aber den Weg zeigen. Dabei kommt es darauf an, sowohl in der internen wie auch in der externen Kommunikationsarena neue Räume des Dialogs und des Austauschs zu schaffen – und zwar in der digitalen, aber auch in der physischen Welt. Es braucht einen erweiterten „hybriden“ Dialogansatz für die Unternehmenskommunikation.
In der internen Arena muss der Standort als Bezugspunkt für Zusammengehörigkeit und Zugehörigkeit zum Unternehmen neu aufgeladen werden. Als Ort der Arbeit kann er diese Funktion nicht mehr in ausreichendem Maß leisten. Er muss sich stattdessen wandeln in einen vitalen und attraktiven Erlebnisraum, der neben dem Arbeiten vielfältige Veranstaltungen, Ausstellungen und Talks anbietet zu unternehmensrelevanten Themen – auch unter Einbeziehung von Geschäftspartnern oder Kunden. Er wird so für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu einem Ort der Inspiration, des gemeinsamen Austauschs und des Verweilens. Eine Wirkung, die virtuelle MS Teams Konferenzen nicht erzielen können. Der physische Standort bekommt so wieder eine identitätsstiftende Leuchtturm-Funktion im Unternehmensalltag. Das muss durch die Unternehmenskommunikation kuratiert werden.
Gleichzeitig braucht es die Einführung einer unternehmensweiten New-Work-Praxis, die hybride Vernetzung widerspiegelt. New Work geht Hand in Hand mit der Digitalisierung im Unternehmen sowie einer virtuellen Arbeitskultur. Die durch Covid-19 beschleunigte Transformation der Arbeitswelt erfordert das unternehmensweite Gespräch mit Blick auf neue hybride Arbeitsweisen und entsprechende Regeln. Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Büro und Homeoffice gestalten? Wie wird zukünftig Zusammenarbeit und Austausch organisiert? Was erfordert Präsenzpflicht, welche Aufgaben lassen sich problemlos von zuhause bewältigen? Und wie soll die zukünftige Bürowelt aussehen? Die Implementierung von New Work und Regularien können gleichzeitig mit einer Neuordnung und Reduzierung von Büroflächen in Einklang gebracht werden. Auch das erfordert eine strukturierte Kommunikation mit dem Ziel, ein gemeinsames Verständnis im Unternehmen herzustellen.
Dazu gehören auch Routinen und Richtlinien für ein neues Führungsverständnis im Rahmen von New Work. Die Neu-Kalibrierung von virtueller Distanz und physischer Nähe, von Agilität und Alignment, von Kollaboration und Direktive verändert nicht nur Führung – sie muss durch Führung selbst gestaltet und moderiert werden. Das erfordert einerseits gezielte Top-down-Vorgaben, um Richtung und Leitplanken zu geben, die mit den strategischen Zielen des Unternehmens vereinbar sind. Andererseits braucht es ein sichtbares Investment in Bottom-up-Formate, die auf Abgleich von Perspektiven, Dialog und gemeinsames Lernen ausgerichtet sind. Die Zugänglichkeit zum Topmanagement während der gesamten Implementierung von New Work sichert dabei Vertrauen in den Prozess.
Für die öffentliche und politische Arena braucht es weitaus stärker als bisher den breiten gesellschaftlichen Dialog. Klassisches Lobbying im Hinterzimmer widerspricht nicht nur Transparenz-Erfordernissen, sondern verstärkt auch eine gefühlte Distanz zwischen Unternehmen und Gesellschaft. Genau diese gilt es durch den Dialog mit NGOs, Aktivisten, Think Tanks und anderen gesellschaftlichen Gruppen zu überbrücken. Dafür braucht es ein großes Narrativ, das den Purpose des Unternehmens und seine strategische Agenda in Verbindung setzt mit den Debatten über die ökologischen, technologischen und sozialen Umbrüche unserer Zeit. Dabei muss die digitale Vernetzung und Präsenz auf digitalen Meinungsmärkten Kern eines neuen Public-Affairs-Ansatzes sein. Gleichzeitig bleiben Konferenzen und andere physische Veranstaltungen als „vertrauensbildende Maßnahmen“ unverzichtbar, um über die persönliche Begegnung zwischen Unternehmensvertretern und gesellschaftlichen Akteuren ein besseres gegenseitiges Verständnis zu ermöglichen und aufzubauen.
Das Primat der Gesellschaft trifft zunehmend auch auf die Finanzkommunikation zu. Sie muss deswegen zusammengedacht werden mit Corporate Communications und Public Affairs. Das erfordert bei IR-Experten und -Expertinnen eine erweiterte Perspektive: weg von der reinen Aktionärsorientierung, hin zu einem breiten Stakeholder-Ansatz, der auch Politik, Gesetzgebung, sozioökonomische Trends usw. einbezieht. Grundlage dafür ist eine konsequente Digitalisierung der Finanzkommunikation: technologiebasierte und datengetriebene Analysen, digitale / virtuelle und physische Kommunikationsformate, E-Learning und Training.
Und dann schließlich das Corporate Branding: Hier ist zumindest eine strenge Prüfung mit Blick auf die Anforderungen der digitalen Welt notwendig. Die Unternehmensmarke dient als Referenz für Strategie, Purpose und Narrativ des Unternehmens. Die daraus abgeleiteten Führungsrichtlinien und Werte sind grundlegend für die gesamte Geschäfts- und Arbeitskultur des Unternehmens. In den meisten Fällen ist das Corporate Branding aber in einer vordigitalen und vorvirtuellen Unternehmenswelt definiert und kodifiziert worden. Das muss korrigiert und an die Anforderungen digitaler Vernetzung angepasst werden. Auch das braucht in viel stärkerem Maß Dialog und Austausch. Nicht nur die Perspektive von Kunden, sondern auch die Perspektiven anderer Stakeholder wie Zulieferer, Geschäftspartner und gesellschaftliche Gruppen von hoher Relevanz für das Unternehmen sind in die Überarbeitung einzubinden, um die Marke wirklich vernetzungsfähig zu machen.
Kein Ende, kein Anfang – aber eine neue Mischung
Die gesamte Unternehmenskommunikation steht damit vor einer neuen existenziellen Phase ihrer Entwicklung. Es geht um nicht weniger als um die immateriellen Grundlagen, ohne die kein Unternehmen dauerhaft erfolgreich wirtschaften kann. Der Transparenz-Imperativ der digitalen Welt hat alte Gewissheiten von Beziehungs- und Vertrauensaufbau erschüttert. Die Corona-Pandemie hat die Bedeutung zwischen physischer und virtueller Welt grundlegend verschoben. Dazu muss Kommunikation einen Zugang finden. „Hybrid“ ist zurzeit der allgegenwärtige Arbeitsbegriff. Dahinter steht die Suche nach dem richtigen Verhältnis zwischen physischem und virtuellem Raum, um belastungsfähige Beziehungen des Unternehmens zu seinen Stakeholdern und ein entsprechendes Vertrauen aufzubauen. Die Suche hat gerade erst begonnen ...
Der Beitrag erschien in der Zeitschrift „kommunikationsmanager“, Ausgabe 4 – 2021, S. 10-13. Sie finden das pdf hier zum Download.