Deutschland fürchtet um seinen Platz auf der internationalen Bühne. Die Inflation, die multiplen Krisensituationen und nicht zuletzt der US-amerikanische Vorstoß mit dem IRA lässt es um seine internationale Wettbewerbsfähigkeit bangen.
Lieber Herr Vassiliades, Sie fordern in einer Allianz mit anderen Gewerkschaften und großen Industrieverbänden die Einführung eines Industriestrompreises. Warum ist gerade das der Hebel, um den Wirtschaftsstandort wiederzubeleben?
Die energieintensiven Branchen stehen am Beginn aller industriellen Wertschöpfungsketten. Sie sind Garanten eines industriellen Netzwerks, das weltweit seinesgleichen sucht und bislang sehr erfolgreich unseren Wohlstand gemehrt hat. Das ist in Gefahr. Die Energieintensiven drohen uns abhanden zu kommen. Die Folge: wachsende Abhängigkeiten von globaler Zulieferung. Schon jetzt bestimmen Produktionskürzungen, Sparprogramme und Personalabbau das Bild. Diese Branchen sind der Grund dafür, dass Deutschland als einziger Industriestaat in der Welt derzeit schrumpft. Zu toxisch ist das Gebräu, das sich für sie gebildet hat: verzögerte Energiewende, überhöhte Energiepreise, überbordende Regulierung, marode Infrastruktur. Sie jetzt zu unterstützen, ist nichts anderes als eine Investition in die Zukunft des Landes – schlicht gut angelegtes Geld. Vordringlichstes Projekt muss ein Preisdeckel für den Strom sein, den größten Kostenblock der Energieintensiven. Industriestrom kostet in den USA oder in Frankreich inzwischen nur noch einen Bruchteil dessen, was hierzulande zu zahlen ist. Wir müssen international schnell zurück auf Augenhöhe, um wieder durchstarten zu können.
Steht die Einführung eines Industrie- oder Brückenstrompreises aus Ihrer Sicht nicht im Widerspruch zum Ziel der Klimaneutralität?
Im Gegenteil. Wir brauchen Branchen wie Chemie, Metalle, Papier, Glas oder Kunststoffe zwingend für die Transformation unserer Industriegesellschaft, für die klimaneutralen Produkte der Zukunft, für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft. Sie selbst haben sich längst auf den Weg gemacht und wollen die Transformation der heimischen Standorte angehen. Diese Modernisierung wäre nicht nur eine Chance für weitere Fortschritte beim Klimaschutz in Deutschland, sondern auch für eine nachhaltige Sicherung von Standorten, Arbeitsplätzen, Wachstum und Wohlstand. Doch dafür brauchen sie internationale wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen.
Welche Erwartungen haben Sie an die Unternehmen überdies hinaus, um die Wettbewerbsfähigkeit der größten Industrienation Europas zu stärken?
Es braucht ein klares Commitment zum Standort Deutschland und Europa, den Willen, die Innovationskraft und das Geld, die Transformation des wichtigsten Wohlstandsmotors dieses Kontinents zu einer Erfolgsgeschichte zu machen. Für uns steht deshalb mit Blick auf einen Brückenstrompreis auch außer Frage, dass diese Subvention an konkrete Transformationsprojekte, Standort- und Arbeitsplatzgarantien sowie an Tarifbindung gekoppelt sein muss.
Michael Vassiliadis ist Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) und Präsident des europäischen Verbunds der Industriegewerkschaften IndustriAll Europe. Er ist Vorstandsvorsitzender des Innovationsforums Energiewende und seit 2020 Mitglied im Nationalen Wasserstoffrat.
Michael Vassiliadis ist zudem stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der RAG AG (Herne) sowie Mitglied des Aufsichtsrats der BASF SE (Ludwigshafen), der Henkel AG&Co. KGaA (Düsseldorf) und der Steag GmbH (Essen). Zudem ist er stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums der RAG-Stiftung.
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