Restrukturierung in Corona-Zeiten erfordert ein neues Narrativ von Unternehmensführung und Mitbestimmung
Von Egbert Deekeling
Dramatische Umsatzeinbußen, flächendeckende Kurzarbeit, Staatshilfen in historischem Ausmaß: Unternehmen befinden sich inmitten eines „perfekten Sturms“. Der Einbruch der deutschen Wirtschaft durch den Corona-Lockdown erweist sich schon nach wenigen Monaten als tiefer und umfassender als der Rückgang während der gesamten Finanz- und Wirtschaftskrise – und das quer durch alle Branchen. Dabei ist die Krise noch lange nicht ausgestanden: Das erhoffte V-Szenario weicht zunehmend dem befürchteten U-Szenario – aber selbst das ist nicht sicher. Die Folge: Unternehmen stehen vor heftigen Restrukturierungsprozessen, wollen sie diese Jahrhundertkrise langfristig überstehen.
Gelernte Glaubenssätze und neue Corona-Realität
Restrukturierungsprozesse sind, so könnte man meinen, eine zwar schmerzvolle und leidige, aber dennoch selbstverständliche und eingeübte Managementpraxis. Denn sie gehören in dynamischen Märkten immer wieder zum Unternehmensalltag. Das gängige Narrativ zur Erklärung von Notwendigkeit, Sinn und Zielen der Restrukturierung wird „Vater unser“-gleich von den Führungsetagen repetiert. Sein Sound ist wohlbekannt: Veränderte Markt- und Wettbewerbsbedingungen bedrohen das Unternehmen. Nur ein unternehmerisches Fitnessprogramm hilft jetzt, um der Gefahr zu begegnen. Der Primat von Effizienz und Optimierung gilt als universeller Lösungsansatz – das olympische Motto des ‚höher – weiter – schneller‘ gibt die Stoßrichtung der Restrukturierung vor.
Vor allem aber: Die Ankündigung von Einschnitten, Unsicherheit, Entbehrungen und großen Kraftanstrengungen wird verbunden mit den Heilsversprechen einer schnellen Rückkehr in stabile Verhältnisse als Grundlage für eine sichere Zukunft. Restrukturierung ist in dieser Erzählung ein kurzfristiges und genau geplantes Programm. Sechs Monate konsequente Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen – und dann sind wir durch. Das alles vermittelt Gestaltungssouveränität, umfassende Kontrolle sowie eine berechenbare und verlässliche Ergebnisprojektion.
Das Versprechen von Stabilität ist zentral für die Kommunikation und das Narrativ der Unternehmensführung gegenüber Mitbestimmung und Mitarbeitern. Gleichzeitig ist dieses Versprechen auch eine immer wiederkehrende Forderung der Mitbestimmung, die diese im Namen der gesamten Belegschaft gleichsam ritualhaft vom Management einklagt. Es ist der Kern für Verständigung und Interessenausgleich in einer Phase des unternehmerischen Ausnahmezustands.
So weit, so gut: Die deutsche Mitbestimmungskultur scheint bestens gerüstet und trainiert, die anstehenden Restrukturierungsaufgaben und -zumutungen im Unternehmen auszuhandeln und zu vermitteln. Doch Vorsicht! Das Corona-Virus verändert auch hier alles. Denn die neue Corona-Realität folgt anderen Spielregeln und hält sich nicht an gelernte Glaubenssätze und Rituale.
Corona schafft die Krise in Permanenz. Die Angst vor der zweiten Welle oder die vage Hoffnung auf einen Impfstoff sind Symptome für eine langanhaltende und umfassende Unsicherheit und Unberechenbarkeit in den grundlegenden volkswirtschaftlichen Entwicklungsszenarien. Das ist nicht mit Sechs-Monats-Zeiträumen abgetan.
Mehr noch: Corona hat mächtige Verbündete. In Verbindung mit den beiden anderen großen epochalen Umbrüchen – Klimawandel und Deglobalisierung – entsteht eine multiple Krisenlage, die Unsicherheit und Unberechenbarkeit weiter verschärft. Diese „Koalition der Epochenbrüche“ ruft ganz neue krisenhafte Wirkmächte für die unternehmerische Entwicklung auf den Plan. Nicht nur Markt und Wettbewerb, sondern auch (Geo-)Politik und die Naturgesetze selbst determinieren wirtschaftliches Handeln in bisher ungekannten, völlig neuen Dimensionen.
Eine verlässliche Zukunftsbehauptung – wie sie das alte Restrukturierungs-Narrativ suggeriert – wird unter diesen Bedingungen unmöglich. Gerade das Versprechen von Stabilität nach einer überschaubaren Phase harter Einschnitte und Entbehrungen funktioniert in einer Welt permanenter und multipler Krisen nicht mehr. Es täuscht eine (Unternehmens-)Wirklichkeit vor, die mit der erlebten Corona-Realität kaum etwas zu tun hat.
Wer jedoch glaubt, weiter am alten Stabilitätsversprechen festhalten zu können, der betreibt nichts anderes als innerbetrieblichen Populismus – und das betrifft sowohl die Unternehmensführung wie auch die Mitbestimmung! Denn er bedient wider besseren Wissens Erwartungen und Sehnsüchte, die in absehbarer Zeit nicht verlässlich zu erfüllen sind. Das aber wird schnell durchschaut und untergräbt die Glaubwürdigkeit beider Parteien. Und das in einer Phase, in der Orientierung, Zuspruch und Klarheit wichtiger denn je sind. Gleichzeitig offenbart sich ein kommunikatives Dilemma. Ohne die Aussicht auf Stabilität fehlt ein Ankerpunkt für Zuversicht, Zukunftsglaube und Sinngebung. Entbehrungen um ihrer selbst willen – da macht keiner mit. Man will schon wissen, warum sich der mühsame Weg lohnt und wo das Licht am Ende des Tunnels ist.
Das neue Narrativ der Restrukturierung
Restrukturierung in Corona-Zeiten muss daher grundsätzlich neu erklärt und neu erzählt werden. Es braucht ein neues Narrativ, das die Restrukturierungsanstrengungen von Unternehmen in der neuen Corona-Realität adäquat einordnen hilft, ohne auf das alte Stabilitätsversprechen angewiesen zu sein. Dieses neue Narrativ ist die notwendige Grundlage für ein verändertes gemeinsames Verständnis von Restrukturierung bei der Unternehmensführung wie auch bei der Mitbestimmung, für Verständigung und Interessenausgleich zwischen beiden Parteien sowie für die Kommunikation gegenüber den Mitarbeitern.
Voraussetzung dafür ist eine Veränderung der Haltung und des Erzählstils, die im Restrukturierungs-Narrativ zum Ausdruck kommen. Allmachtsbehauptungen im Sinne von „alles im Griff und unter Kontrolle“ sind unzeitgemäß und gehören in die Mottenkiste eitler Selbstdarstellung ohne wirkliche Substanz. Nichts ist unter Kontrolle. Corona ist die Zeit des Begreifens, des gemeinsamen Lernens sowie des geduldigen und unaufgeregten Handelns. Pragmatismus, Ernsthaftigkeit, Wahrhaftigkeit und Empathie – das muss die Tonlage für die Erklärung der anstehenden Restrukturierungsvorhaben sein. Auch das altbackene Wort Demut ist hier angebracht.
Mit dieser Haltung sind die unangenehmen Wahrheiten der neuen Corona-Realität schonungslos zu benennen und alte Gewissheiten zu demaskieren. Restrukturierung ist kein Kurzzeit- und Ausnahmprojekt – permanente Krisen machen sie zu einer permanenten Managementaufgabe. Restrukturierung folgt nicht einer vorab geplanten linearen Umsetzungslogik mit klarem Anfang und Ende – multiple Krisenlagen machen sie zu einem iterativen und agilen Prozess.
Der größte Paradigmenwechsel liegt aber im Verzicht auf das Stabilitätsversprechen. Stattdessen werden Überleben und Existenzbehauptung zu illusionsfreien Zielsetzungen der Restrukturierung. Das mag zunächst furchtbar ernüchternd klingen. Umso wichtiger ist es, die Resilienz des Unternehmens als bedeutende Aufgabe von Zukunftsgestaltung zu einem sinnstiftenden Ankerpunkt der neuen Erzählung zu machen. Wenn Stabilität nicht mehr prophezeit werden kann, dann ist Resilienz das neue Tor in die Zukunft.
Hohe Anforderungen an die Kommunikation
Alles das ist im Unternehmen auszusprechen, zu benennen, neu zu erklären und vorstellbar zu machen. Nur so werden ein glaubhaftes Erwartungsmanagement, Orientierung und Verständnis für die neuen Parameter der Restrukturierung in Corona-Zeiten möglich. Das setzt voraus, dass Unternehmensführung und Mitbestimmung ihre langjährigen Argumentationsroutinen und Forderungsrituale bewusst „verlernen“. Es braucht dafür eine intensive Auseinandersetzung mit dem veränderten Kontext und dem neuen Narrativ der Restrukturierung. Dies betrifft gerade auch die Stärkung von Resilienz als Projektionsfläche für eine realistische Zukunftsbehauptung und neuer Sinngebung diesseits des alten Stabilitätsversprechens.
Selbstverständlich ist dabei im Einzelfall immer auch zu differenzieren. Restrukturierung ist nicht gleich Restrukturierung. Und auch ihre Heftigkeit und Dramatik ist je nach Unternehmen unterschiedlich. Multiple Krisenlagen bringen verschiedene Restrukturierungsanforderungen mit sich – auch die müssen in ihrer Besonderheit eingeordnet und verstanden werden.
Das alles ändert aber nichts an den Grundkoordinaten des neuen Narrativs. Es ist bestimmt von der Herausforderung, komplexe unternehmerische Krisenlagen ohne Hilfe der alten Heilsversprechen von Stabilität zu erklären. (Führungs-)Kommunikation in der Restrukturierung ist damit um vieles schwieriger geworden. Es geht nicht nur um die technokratische Vermittlung zahlengetriebener Ziele und Maßnahmen. Es geht um viel mehr – es geht auch um die Deutung und das Verstehen einer Welt in Unordnung.
Der Beitrag erschien in Ausgabe 03/2020 der Zeitschrift "kommunikationsmanager", das pdf finden Sie hier zum Download. Die Veröffentlichung auf unserer Website erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Mehr zum Thema Restrukturierung und zu unserem Expertenteam finden Sie in unserem Special RESTRUKTURIERUNGEN IN DER NEUEN CORONA-REALITÄT.
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